Die „Achtundsechziger“ sind an ALLEM schuld!

Grafik: Richter / Dinné
Bei meinen Ausflügen ins rechte und linke Milieu des nach 1989 neu gefügten Deutschland stellt sich regelmäßig heraus, daß die ideologische Unbedingtheit aus den Zeiten des Kalten Krieges nur ungern abgestreift wird. Nicht ohne neurotischen Aufwand werden die liebgewordenen Vorurteile über die jeweils „andere Seite“ gepflegt. Dagegen scheint kein Kraut, noch weniger ein Argument gewachsen zu sein.
Mit Inbrunst werden in rechten und konservativen Kreisen die „Achtundsechziger“ als Ahnherren allen Übels in dieser Republik gehaßt. Die Achtundsechziger sollen schuld sein an Homosexualität, Promiskuität und Antibabypille, erst recht an Abtreibungszahlen jenseits der Hunderttausend pro Jahr, an Korruption und Wertverfall, am Klimawandel (oder der Hysterie darum), am Zuzug südländischer Migranten und der schlechten Erziehung der Kinder. Wenn ich mich anschicke, Ursachen und Konsequenzen der Studentenrevolte zu erklären, hören mir meine konservativen und rechten Bekannten schon nicht mehr zu. Als angeblicher „Renegat“ bin ich ihr Maskottchen und Beweis, daß ihr missionarischer Eifer augenscheinlich nicht vergebens ist: indem ich bei ihnen stille Einkehr hielt, tilge ich meine „große Schuld“.
Politischer Mord: Von Karl Ludwig Sand zu Andreas Baader
Dabei feierten die konservativen „Freunde“ erst unlängst Karl Ludwig Sand, den Burschenschaftler, der den „russischen Agenten“ August von Kotzebue im März 1819 niederstach und tötete. Sand und der burschenschaftliche Geheimbund der „Unbedingten“ — wer denkt bei diesem Namen nicht an die RAF — imaginierten sich als Begründer eines Befreiungsnationalismus gegen die dänische, russische, französische Fremdherrschaft in den deutschen Staaten. Mit solchen Zielen identifiziert man sich offenbar gern. Und die Gewalttat verblaßt im Nebel der Historie als läßlich. Mit gleichem Pathos werden die Akteure der Revolution von 1848 hochgehalten und dabei unterschlagen, daß auch ein Richard Wagner, ein Gottfried Semper oder Friedrich Engels einst radikale Barrikadenkämpfer waren.
Doch Karl Ludwig Sand mit Andreas Baader zu vergleichen erntet Entsetzen, nicht nur bei den Konservativen, sondern vermutlich auch auf der Linken. Aber Baader wie Sand hielten Gewalt, ja Mord für ein probates Mittel gegen die „Fremdherrschaft“. Und in Organisation und Zielsetzung dürften sich RAF und die „Unbedingten“ wenig unterschieden haben. Gab es damals die „Demagogenverfolgung“ der Karlsbader Beschlüsse, so wurden nach 1971 die innere Sicherheit ausgebaut und Berufsverbote erlassen. Gegen die Barrikadenkämpfer Wagner, Semper und Engels nehmen sich die Achtundsechziger beinahe schüchtern aus. Aber Vorurteile sind wie Furunkel. Sie wuchern immer wieder neu. Zwischen 1819, 1848, 1918 und 1968 „darf“ es keine Gemeinsamkeiten geben. Das verlangen meine konservativen Bekannten. Das verlangen auch meine linken Bekannten.
Der Staat im Würgegriff der 68er?
Nun lese ich fast im Wochentakt in der „Jungen Freiheit“, daß ab 1968 der Wertezerfall der Republik einsetzte und die Revolteure von damals inzwischen Staat, Kultur und Bildung im Würgegriff halten. Wenn ich auf konkrete Ereignisse verweise und darauf, daß die tatsächlichen Aktivisten von damals — und nicht die, die sich heute gerne mit einer Revoluzzerlegende umgeben — entweder tot (Dutschke, Krahl, von Rauch, Weißbäcker) oder am Apparat und an den Berufsverboten gescheitert sind, ist man empört über den vermeintlichen Verharmloser. Aber bei „68“ fällt ihnen dann doch nur Fischer oder Schröder ein, die sich gern als „68er“ zitieren lassen, doch damals etwa um die 20 Jahre alt waren, dem studentischen Milieu eher fern standen und erst später ihre Karrieren in der Sozialdemokratie oder im nachrevolutionären Straßenkampf der siebziger Jahre machten.
Und man darf sich durchaus fragen, warum ein Teil der K-Gruppen-Sektierer der 70er Jahre, mit dem selbstattestierten Nimbus des 68er-Recken, so elegant durch die Institutionen nach oben gleiten konnten, während andere, fähigere, nicht selten habilitierte Wissenschaftler mit linksradikaler Vergangenheit nicht einmal an den Universitäten reüssieren durften. Und man wird den Verdacht nicht los, daß derlei Karrieren ohne eine bestimmte „Protektion“ (natürlich nicht ohne Gegenleistung) kaum möglich gewesen sein können.
Daß in Wirklichkeit der große Umwälzer der Moral und Veränderer der Sitten und Gebräuche der moderne Kapitalismus war, der bereits seit mehreren hundert Jahren die Umwertung der Werte provozierte, gilt diesen auf „68“ eingeschossenen Konservativen nicht als Argument. Als ob es die Romantik, Hegel, Marx, Nietzsche, Bakunin, Stirner und eben auch einen Adolf Hitler nicht gegeben hätte.
Daß die nach Krieg, Vertreibung, Verwüstung, Tod und Verderben nach 1949 künstlich hergestellten Idyllen von Familie und Ordnung der Adenauerrepublik, die dazu dienten, ein zerrissenes Volk zu stabilisieren, Wohlstand herzustellen und Wunden zu heilen, eines Tages mit der Realität der modernen amerikanischen Konsumgesellschaft und ihren Entgrenzungen kollidieren mußten, ist meinen konservativen Gesprächspartnern Anathema.
Konservative Steigbügelhalter beim Marsch der „68er“ durch die Institutionen
Sie sind mit Inbrunst auf der Suche nach einem „Schuldigen“. So sehr, daß man sich fragt, wo sie eigentlich die letzten vierzig Jahre verbracht haben mögen, in denen all das geschehen konnte, was sie heute glauben beklagen zu müssen. Haben sie selig geschlafen? Haben sie mindestens drei Jahrzehnte von der Umwälzung, die im Gange gewesen sein soll, nichts bemerkt? Wie ist es dann um ihr „überlegenes“ politisches Urteilsvermögen und staatspolitisches Denken bestellt, das sie sich regelmäßig zugute halten? Nun, nicht gut. Und der Verdacht kommt auf, daß sie mit viel Geräusch von ihrem eigenen Anteil an dieser Umwertung, am „Ex und Hopp“ der Wegwerfgesellschaft mit ihren politischen Frivolitäten und Albernheiten ablenken wollen.
Bei näherem Hinsehen reduziert sich die konservative Kritik an „68“ auf unartikuliertes Ressentiment. Es entbindet von der auch auf der Rechten notwendigen „Arbeit am Begriff“. Denn diese „Konservativen“ können selbst nicht unterscheiden zwischen neurechten, reaktionären und genuin konservativen Standpunkten. Fast jede ihrer Positionen ist im Kern nicht mehr als ein irgendwie „rechter“ Affekt. Daß die Kritik der 68er an Imperialismus, Besetzung, Staat, Bildung und Konsum konservative Ansätze mit den Auffassungen des Marxismus und der Antiaufklärung verknüpfte, erschließt sich, weil ideologisch uneindeutig und hyperkomplex, diesen „Konservativen“ deshalb nicht. Man ahnt, wie wenig sie selbst ihre eigene Ideologie historisch und konzeptionell durchdrungen haben. Es lohnt sich entsprechend, etwa die „Junge Freiheit“ nach polit-folkloristischen Ersatzhandlungen zu inspizieren. Man wird fast jede Woche fündig. So konnte unlängst der Vorsitzende einer national-deutschen südtiroler Partei seine Hoffnung auf eine Politisierung der südtiroler Jugend unwidersprochen damit begründen, daß diese Jugend auf Volksfesten neuerdings mit besonderem Eifer traditionelles deutsches Liedgut absinge. Oder Graf Stauffenberg, jene politisch-moralische Monstranz, die die „Junge Freiheit“ mit besonderer Impertinenz, nicht notwendig aber mit ausreichend Verständnis für die widersprüchliche historische Persönlichkeit, vor sich herträgt, mal als Über-Ich, mal als notdürftiges Feigenblättchen. Und wenn dann mancher schon einmal übers Ziel hinausschießt (schießt?), so wie Rolf Stolz, der neulich in der „Jungen Freiheit“ forderte, es müsse heute viele Stauffenbergs geben, dann ist das mehr als moralisch monströser Mißbrauch dieses Mannes. Dann denkt man wieder an Baader. Oder an Sand.
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