Zum Inhalt springen

Der Mord an Benno Ohnesorg

22. Mai 2009

Der nachstehende Text ist ein Auszug aus meiner im Entstehen begriffenen Autobiographie.

Ein Staatsgast läßt prügeln

Tod_des_Demonstranten-2

„Tod des Demonstranten" - Relief von Alfred Hrdlicka zum Gedenken an Benno Ohnesorg, Deutsche Oper Berlin (Foto: Lorem ipsum / Wikipedia, Lizenz: CC-BY-SA-2.0-DE)

Der Schah von Persien sollte die westliche Teilstadt besuchen. Iranische Studenten verteilten Flugblätter. Bahman Nirumand hatte im Rowohlt-Verlag eine Analyse der modernen Despotie im Iran vorgelegt. Am Vorabend des Besuches wollte er im Audimax der Freien Universität über die sozialen und politischen Verhältnisse seines Landes reden. Viele der iranischen Studenten waren Mitglieder der Tudeh-Partei, der Kommunistischen Partei. Sie folgten einer marxistischen, antikapitalistischen und antimonarchistischen Kritik dieser Doppelmacht zwischen Imperialismus und brutaler Polizeigewalt. Die Vorbereitung einer Demonstration gegen den Potentaten vor dem Schöneberger Rathaus und der Deutschen Oper wurde von Seiten des ASTA und des SDS weitgehend den persischen Studenten überlassen.
Die wichtigen Akteure des SDS fühlten sich überfordert, auch noch in der Frage des Schahs, Stellung zu beziehen. Sie hatten sich auf den Protest gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam konzentriert und waren außerdem mit einer Hochschulreform befaßt. Nach dem Streit mit der Kommune — sie war wegen der Verbreitung eines Flugblattes über einen Kaufhausbrand, das sie unautorisiert im Namen des SDS verbreitet hatte, aus dem SDS ausgeschlossen worden — sollten die beiden Kampfformen (Provokation und Reform) zusammengeführt werden, um den Eindruck des puren Reformismus zu vermeiden. Der Hochschulstreit sollte deshalb zwei Ziele verfolgen. Die Demokratisierung der Hochschule gegen einen Ordinarienfeudalismus bildete die grundsätzliche und wichtige Zielsetzung. Die Verbesserung der Ausbildung und Lehre, die die Wissenschaften vergleichbar machen sollten mit dem internationalen Stand der Forschung, sollte die Kritik an den Ordinarien verschärfen. Der Vietnamprotest wurde in diesem Zusammenhang als Test gesehen, die unterschiedlichen Bündnispartner in der Vietnamfrage zu politisieren. Zugleich wollte man wissen, wie weit die liberalen und sozialdemokratischen „Bündnispartner“ mithielten, wenn die nordamerikanische Schutzmacht am Beispiel Vietnam radikal in Frage gestellt wurde, obwohl die Parteispitzen es kaum wagen würden, auf Distanz zu dieser Groß- und Besatzungsmacht zu gehen. Eine derartige Doppeltaktik sollte in nächster Zeit erweitert werden, um der anarchistischen Kritik zu begegnen.

Monarchistischer Theaterdonner

Die Kommunarden, freigesetzt von allen organisatorischen und taktischen Zwängen, stellten die ästhetischen Fragen von Gewalt, Pfauenthron und Despotie in den Vordergrund. Für sie war es kein Zufall, daß die Regenbogen- und Boulevardpresse den despotischen Pomp des Thrones in Persien in die Schlagzeilen brachte. Die ewigen Berichte über die „deutsche“ Soraya, die keine Kinder kriegen konnte und deshalb vom Hof verstoßen wurde und der Klatsch über die neue, junge Farah Diba, die nun für den Kindersegen sorgen würde, deuteten auf monarchistische Sehnsüchte in Deutschland hin. Der deutsche Kaiser war nach 1918 mehrfach „entsorgt“ und verdrängt worden. Die Revolution hatte ihn nach Holland vertrieben. Die Weimarer Republik hatte ihn für Militarismus und Kadavergehorsam verantwortlich gemacht. In der Nazidiktatur wurde das „preußische“ Offizierkorps unter die Befehlsgewalt des „Führers“ gestellt. Das „reaktionäre Preußentum“ setzte man 1944 mit Verrat und Feigheit vor dem Feind gleich. Die zwei Nachkriegsdeutschlands machten Preußen und den Kaiser für Nationalsozialismus und Rassismus verantwortlich. Im Osten wurden alle großen Güter der preußischen Großgrundbesitzer enteignet.

Der Schah bildete deshalb für die Presseleute Folie und Erinnerungsbild an die preußische Monarchie und überhaupt an die deutschen Fürstenhäuser. Der bayrische Kulissenkönig Ludwig II. wurde entdeckt und über die unglückliche Sissi wurden kübelweise Krokodilstränen vergossen. Der Fürst von Monaco und seine Gattin Grace Kelly, die in Hollywood als amerikanische Schauspielerin Berühmtheit erlangt hatte, waren Schlagzeilen wert. Die Sehnsucht nach feudalen Inszenierungen war unübersehbar. Die „Refeudalisierung“ der Republik galt als Propaganda-Tünche, um die Aufmerksamkeit von der Politik abzulenken.

Selbst die Playboys der deutschen Großbourgeoisie, wie Gunter Sachs oder die Jungs der Familie Quandt, wurden wie Prinzen vorgeführt. Ihr Luxus, ihre Autos und schönen Frauen erregten Staunen und Neid. Wurde über ihren Kummer und ihr Seelenleid berichtet, stöhnten die Voyeure auf und waren zufrieden, dass auch diese vermeintlichen Übermenschen von Krankheiten, Kummer und Tod geplagt wurden. Die vielen Leser der Regenbogenpresse, die Omas und Muttis, die Spießer und Neugierigen würden am 2. Juni 1967, nach Auffassung der Kommunarden, für den Schah und insgeheim für den deutschen Kaiser und den Fürstenabsolutismus demonstrieren. Ihnen wollte die Kommune das Spiel verderben.

Den monarchistischen Pomp aufmischen

Sie nahmen Einkauftüten aus Papier und klebten darauf das Konterfei des Despoten oder das Antlitz der Farah Dibah. Sie sollten als Masken dienen, um das Herrscherpaar hundertfach zu kopieren. Die Senatsgäste sollten auf ihr vielfaches Abbild blicken und sich entsetzen. Farbeier wurden in großer Anzahl produziert. Konfetti sollte gestreut werden. Knaller und Feuerwerkskörper wurden aus irgendwelchen Beständen besorgt. Die Kommunarden wollten sich unter die Schaulustigen mischen und ihnen das Herrscherpaar über die Papiermasken nahe bringen. Da die Polizei sich angewöhnt hatte, die Demonstranten durch Pferde und „Berittene“ einzuschüchtern, sollten die Tiere erschreckt werden, um die Reiter abzuwerfen oder Tumult zu verursachen. Die Farbeier waren für das Herrscherpaar und die Politiker gedacht, um sie farblich „aufzufrischen“. Das Konfetti sollte für die Friedfertigkeit von Fest und Karneval zeugen. Die Kommunarden ahnten nicht einmal, dass dieses Mal auch die anderen Akteure sich auf den Besuch vorbereiteten.

Der amerikanische Stadtkommandant macht mobil — im Alleingang

Der amerikanische Stadtkommandant war seit längerem über den Protest der Studenten gegen die amerikanische Vietnampolitik verärgert. Er ließ sich von den Beratern erklären, dass die vielen Wehrdienstverweigerer aus der Bundesrepublik die Universitäten der Stadt bevölkerten. Außerdem seien vor und nach 1961 viele Studenten aus dem Osten in die Stadt geströmt. Sie hätten teils die kommunistische Erziehung noch nicht abgelegt, teils agierten sie als „Fünfte Kolonne“, um im Auftrag der sowjetischen Politik unter Nikita S. Chrustschov, die westliche Teilstadt in eine „Freie Stadt“ zu verwandeln. Sie würden längst die einheimischen und braven Studenten überstimmen und Klamauk veranstalten. Es bereite ihnen Freude, die amerikanische Gründung der Freien Universität in ihr Gegenteil zu verkehren und aus ihr eine „Kaderschmiede“ des Kommunismus zu machen. Außerdem seien viele kommunistische Studenten aus Persien, Palästina, Nordafrika und Lateinamerika an dieser Universität eingesickert. Der Stadtkommandant wollte endlich Namen wissen. Über die Kontaktoffiziere zum Polizeipräsidium wurde darauf gedrungen, polizeiliche Kampfgruppen aufzustellen, die in die gegnerische Demonstration hineinstoßen konnte. Greiftrupps aus den Reihen der Politischen Polizei, stationiert im amerikanischen Sektor, wurden aufgestellt, um die Rädelsführer festzunehmen. Dem englischen Stadtkommandanten und seinen Offizieren bei der Polizeileitung wurde eingeredet, dass die Kollegen aus dem amerikanischen Sektor nur zum Objektschutz antreten würden. Über die Planungen an der Deutschen Oper wurde er nicht eingeweiht. Die Demonstranten sollten an diesem Tag ihr Waterloo erleben. Wer Wind säte, sollte Sturm ernten.

Für den Polizeipräsidenten Duensing gab es lediglich politische Hindernisse für diese Planungen. Willy Brandt hatte Westberlin verlassen und war in eine Großen Koalition in Bonn hineingenommen worden als ein Außenminister, der den Weg von Reformen und Annäherungen an den Osten beschreiten würde. Er hatte den Pfarrer Albertz zu seinem Nachfolger bestellt. Dieser wiederum verließ sich auf den jungen SPD-Innensenator Büsch, der selbst irgendwann im noch parteinahen SDS agiert hatte. Die beiden Politiker sollten dem Außenminister in Berlin den Rücken frei halten, um zu vermeiden, dass eine reaktionäre SPD in Westberlin Stimmung in der Partei und im Bund gegen den Reformkurs machte. Beide Politiker, Alberts und Büsch, hatten in der Senats- und Bezirkspartei keinen Rückhalt. Als Aufpasser waren sie den strebsamen Neubauer und Schütz unangenehm Diese wiederum setzten auf die amerikanische Karte und waren überzeugt, dass die Große Koalition in Bonn im ersten Anlauf scheitern würde. Sie wollten die Nachfolge ihrer Gegner in der Teilstadt antreten. Der Polizeipräsident unterrichtete den Innensenator und Bürgermeister nicht von den amerikanischen Plänen.

Berliner Polizei läßt iranischem Geheimdienst freie Hand

Trotzdem lief nicht alles nach Plan. Das Geschehen am Vormittag vor dem Schöneberger Rathaus sollte die Bürger auf einen Stadtkrieg einstimmen und die Wut in den Reihen der Polizei gegen die Demonstranten schüren. Die Kommunarden störten die Neugierigen zwar. Sie zeigten zum Entsetzen der Königstreuen und der Bewunderer des Schahs ihre Masken und Gesichtstüten. Sie warfen Knaller und Konfetti. Die Farbeier erreichten allerdings nicht die Luxuslimousine des Despoten. Die Pferde tänzelten aufgeregt. Die Reiter blieben jedoch fest im Sattel. Die Spießer schimpften. Die Demonstranten lachten. Selbst die iranischen Studenten hielten sich zurück. Von Krieg war keine Spur. Da kamen aus der Nebenstraße, aus einem Bus, die Schläger der SAVAK, der iranischen Geheimpolizei. Sie trugen lange Latten und Knüppel und wollten ihr Idol schützen. Sie schlugen auf die Demonstranten ein, doch trafen sie dabei auch die Neugierigen aus dem Sektor des feudalen Pomps. Die Polizei war darauf vollkommen unvorbereitet. Nicht die Demonstranten eskalierten den Aufzug, sondern der Staatsgast selbst übertrug die Gewalt seines Staates auf den Vorplatz der Westberliner Republik. Die Berliner Polizisten ließen die Staatsschläger gewähren.

Ich war als Zuschauer bei den Ereignissen anwesend. Im Audimax war ich den Reden der iranischen Kommunisten gefolgt. Nirumand hatte mich begeistert. Das Spektakel der Kommunarden schien sich einzureihen in den politischen Protest. Am anderen Tag waren Dirk Müller und ich im 2CV zum Rathaus nach Schöneberg gefahren. Die „Ente“ wurde bereits in der Badenschen Straße von der Polizei gestoppt. Zu Fuß wurde der Weg zum Abgeordnetenhaus und Senatssitz beschritten. Wir kamen an, als gerade die iranische Knüppelgarde für ihren Schah auf die Demonstranten einschlug. Plötzlich wurde deutlich, dass nicht nur die Kommune ihre Provokationen steigerte, sondern die andere Seite auf diese Aktionen aggressiv reagierte. ASTA und SDS waren an der Vorbereitung der Demonstration kaum beteiligt. Es fehlten die Einschätzungen und vor allem die Juristen, die die Polizei unter Obacht stellen konnten.

Der Staat läßt morden

Für den Abend vor der Deutschen Oper gab es überhaupt keine Verabredungen. Dutschke weilte zu einem Agitationsauftritt in Hamburg. Die Hochschulfraktion um Sigrid Fronius und Wolfgang Lefevre war nicht ansprechbar. Die anderen waren im SDS-Zentrum nicht erreichbar. Viele besaßen kein Telefon, so dass Mitteilungen oder Hinweise nur schwer weiter geleitet werden konnten. Vor der Oper an der Bismarckstraße gab es einen riesigen Bauplatz. Die hohen Bauzäune, die dieses Areal abgeriegelten, waren über drei Meter hoch und ließen sich nicht erklimmen. Davor lag der Gehweg, der kaum mehr als fünf Meter breit war. Ein hohes Absperrgitter verriegelte den Zugang zur Straße. Hier versammelten sich die Demonstranten. Die Kommune und ihr Anhang bevölkerten einen Teil dieses Durchlasses. Die Distanz zum Eingang der Oper betrug von hier gut siebzig Meter, weil zwei dreispurige Straßen und ein großer Mittelstreifen dazwischen lagen. Farbeier konnten kaum diese Entfernung überwinden. Mir erschien diese Anlage als Falle. In den Nebenstraßen nördlich der Oper waren Polizeireserven stationiert. Deutlich sichtbar waren Wasserwerfer und schweres Gerät. Ich blieb an der Krummen Straße stehen und beobachtete das Geschehen.

Viele hatten sich in den Schlauch auf dem Gehweg aufgestellt. Vor dem Gitter, das die Demonstranten einzwängte und beengte, standen in einem engen Abstand Polizisten. Ihre grimmigen Gesichter ließen nichts Gutes erwarten. Die Kommunarden wärmten sich durch Sprüche auf. Einzelne Farbeier klatschten auf den Mittelstreifen. Polizisten wurden mit Konfetti überschüttet. Gelächter und Gesten sollten Mut machen. Die Eskorte des Schahs und des Bürgermeisters fuhren vor. Protestrufe erklangen von Seiten der Demonstranten. Die Staatshüter verschwanden im Opernhaus. Nachzügler kamen mit Limousinen und Chauffeur vorgefahren. Der Tumult auf dem Gehweg steigerte sich. Inzwischen war er überfüllt, weil viele sich in die Reihen dort gedrängt hatten. Ein Farbei traf eine Dame. Ihr Abendkleid erhielt einen roten Überzug. Sie und ihr Begleiter krümmten sich vor Lachen. Dieses friedliche Verhalten passte irgendwie nicht zur Schlachtordnung der Polizei.

Duensings „Leberwurst“-Taktik: die Studenten in der Falle

Kaum waren die letzten Gäste im Opernhaus verschwunden, griff die Polizei an. Einzelne Polizisten sprangen behänd über das Gitter, um einzelne Protestler herauszuzerren. Sie wurden durch andere Uniformträger unterstützt. Die Demonstranten setzten sich auf den Boden, hakten sich unter, um einen passiven Widerstand anzudeuten. Das kümmerte die Polizeischläger nicht. Der enge Gehweg wirkte wie ein Schlauch oder eine „Leberwurst“ und wurde „aufgeschlitzt“ (so Polizeipräsident Duensing), um vermeintliche Rädelsführer zu verhaften. In die Krumme Straße drängte ein Stoßtrupp der Polizei. Die Wasserwerfer gerieten in Fahrt. Die Wasserschleuder lief unkoordiniert. Sie nahm die Polizei ins Visier. Plötzlich wurde ein kleiner Trupp ziviler Polizisten sichtbar. Sie trugen hellgraue Anzüge, die wie Uniformen wirkten und das gegenseitige Erkennen erlaubten. Sie sprangen über die Sperrgitter und drängten mit anderen Beamten in die Demonstranten hinein. Ich wich erschrocken zurück. Die Zivilbullen erinnerten mich an die Aufpasser aus dem ostdeutschen Staatssicherheitsdienst. Ich flüchtete mich in die Auffahrt eines Neubaus, der von Stahlpfeilern getragen wurde und der auf ebener Erde einem Parkplatz Raum gab. Neben mir stand ein Student mit einem roten Hemd, der ein Stofftransparent umklammerte. Ich kannte ihn nicht. Ein Zivilbeamter kam mit anderen Polizisten auf uns zu. In der rechten Hand blitzte ein Revolver. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Unheil kündigte sich an. Meine Fluchtinstinkte trieben mich fort. Ich verdrückte mich schnell und rannte auf die Straße. Es fiel ein Schuss. Tauben flatterten aus den Bäumen auf. Ich lief mit anderen Demonstranten in Richtung Kantstraße und weiter zum Kurfürstendamm. Alle waren aufgeregt und rätselten, ob die Polizei tatsächlich geschossen hatte.

Es mochte gegen 21 Uhr sein. Es war noch nicht dunkel. Irgendwo zwischen den Häusern glitzerte die untergehende Sonne. Im SDS-Zentrum am oberen Kurfürstendamm, Ecke Kaiser-Friedrichstraße herrschte große Unruhe. Der Polizeifunk wurde abgehört. Der Bericht sprach von einem toten Polizisten und einem toten Studenten. Keiner wollte diesen Aussagen Glauben schenken. Über die Greiftrupps der Polizei wurde gesprochen. Wen wollten sie festnehmen? Waren sie auf die Kommunarden konzentriert? Oder hatten sie sich über Fotos die einzelnen Gesichter der bekannten SDS-Genossen eingeprägt? Wurde über diese Ereignisse das Verbot des SDS eingeleitet? Inzwischen stand fest, dass in der Krummen Straße in einer Auffahrt ein Student von einem zivilen Fahnder erschossen worden war. Verschiedene Gerüchte entstanden. Gegen Mitternacht löste sich die Versammlung auf. Die Anwesenden verabredeten sich, sich am anderen Morgen in der Villa des ASTA, in Dahlem, zu treffen.

Nach dem Mord

Am Vormittag des 3. Juni 1967 zeigte sich, dass alle Gebäude der Freien Universität verschlossen waren. Angeblich hatten die Stadtkommandanten über die Teilstadt ein Versammlungs- und Demonstrationsverbot ausgesprochen. Polizeiwagen patrouillierten in einem weiten Abstand zu diesem Universitätszentrum. Zwischen Mensa und Henry-Ford-Bau diskutierten Gruppen von Studenten. Der ASTA war so etwas wie ein Koordinationszentrum. Berichte über den Verlauf der Demonstrationen vor dem Rathaus und vor der Oper wurden aufgenommen. Schnell sprach sich herum, wer der erschossene Student war. Aber Benno Ohnesorg war in den studentischen Linksgruppen vollkommen unbekannt. Er hatte an diesem Tag zum ersten Mal überhaupt an einer Demonstration teilgenommen. Sein Betätigungsfeld war die Evangelischen Studentengemeinde gewesen. Er war verheiratetet, seine Frau erwartete ein Kind. Auf weißem Leinen hatte er ein Transparent geschrieben: „Freiheit für die Teheraner Universität“. Er wurde wohl eher aus Zufall Objekt der Polizeiattacken und Opfer des Zivilpolizisten, der ihn erschossen hatte. Vielleicht war ihm sein rotes Hemd zum Verhängnis geworden.

Im ASTA versammelte sich der Beirat des SDS. Lefevre, Fichter, Semler, Rabehl redeten durcheinander. Mit dieser Eskalation hatte niemand gerechnet. Nachmittags stieß Dutschke zur aufgeregten Runde. Über die Aufgabe der Greiftrupps wurde nachgedacht. Offensichtlich hatten sie den Auftrag, bekannte Gesichter aus SDS und Linksgruppen herauszufischen. Sie waren bewaffnet, um sich in Notsituationen zu wehren oder um vielleicht sogar gezielt einen Fangschuss anzusetzen. Niemand konnte die Bewaffnung und die Aggressivität der Greifer verstehen. Was hatten die anderen Zivilpolizisten angestellt? Aus welcher Polizeieinheit kamen sie? Hatten sie sich über Fotos die Gesichter von Rädelsführern eingeprägt? Kaum jemand von den bekannten Rednern und Agitatoren hatte an den Ereignissen teilgenommen. Die Greifer hatten ihren Auftrag nicht erfüllen können. Hatte Ohnesorg mit jemandem aus dem SDS Ähnlichkeiten? Wies er die Gesichtszüge von Lefevre, Treulieb, Semler, Rabehl auf? Er war blond, schlank, hatte eine Körpergröße von 1,70 bis 1,75 Meter und trug einen Oberlippenbart. Oberflächlich gesehen, ähnelte er niemand aus den Kreisen des SDS. Vielleicht war es wirklich nur das rote Hemd. Es hatte den Greifer auf die rote Fahne verwiesen und ihn zum Todesschuss veranlasst. Wer war der Schütze?

Es stellte sich heraus, dass alle verhafteten Studenten wieder auf freiem Fuß waren. Nur Fritz Teufel blieb im Polizeigewahrsam. Ihm wurde vorgeworfen, mit Steinen auf Polizisten geworfen zu haben. Die Zahl der Verletzten sollte durch Anrufe bei den Krankenhäusern festgestellt werden. Eine Meldestelle wurde eingerichtet, um Berichte über den Verlauf der Demonstrationen, über die Gewalttaten von Polizisten und Demonstranten und über die Ziele der Greifer aufzunehmen. Aus diesen Initiativen entstand ein Untersuchungsausschuss beim ASTA, der parallel zum parlamentarischen Gremium die Hintergründe des 2. Juni recherchieren sollte. Gegen Abend kamen die wichtigen Rechtsanwälte um Horst Mahler und Otto Schily, die die Verteidigung von Fritz Teufel übernehmen würden. Horst Mahler riet mir ab, mich als Zeuge zu melden. Ich würde mich als vermeintlicher Rädelsführer selbst preisgeben. Es war wichtig nachzuweisen, dass Polizei und Greifer die wichtigen Repräsentanten des SDS und der Kommune suchten, um sie zu verhaften und ausschalten. Diese Zielsetzung würde erklären, warum auf Ohnesorg geschossen wurde. Erst der Nachfolger des Polizeipräsidenten Duensing, Klaus Hübner, würde in seiner Biographie, allerdings erst 1997, vorsichtig darauf hinweisen, dass die Polizei auf Veranlassung des amerikanischen Stadtkommandanten sich diesen „Zugriff“ am Abend des 2. Juni geleistet hatte.

Ohnesorgs Tod als Fanal für eine ganze Generation

Das Entsetzen über den Tod von Benno Ohnesorg sollte eine ganze Generation von Studenten und Schülern prägen. Das zeigte sich in den folgenden Tagen. Alle Gebäude wurden sehr schnell wieder geöffnet. Das Audimax und die Hörsäle A und B im Henry-Ford-Bau der FU Berlin wurden von Studentenmassen belagert. Hier fand ein permanentes Teach-in statt, das in die anderen Räume und nach außen übertragen wurde. Alle bekannten Redner wurden aufgefordert, über ihre Themen und Beiträge die Neulinge über die politische Lage der Stadt, die Ziele des Hochschulkampfes und die sozialen Visionen von Veränderungen, Reformen und Revolutionen aufzuklären. Die Kommunarden reihten sich erneut in die studentische „Front“ ein und gaben sich einen legalen Status, indem sie über eine Justizkampagne zur Freilassung von Fritz Teufel juristisch argumentierten und alle utopischen Ziele vorerst verwarfen. Die aufgewühlten Studenten als „Masse“, aber auch als einzelne Persönlichkeiten verlangten nach Aufklärung, nach politischen Zielen, nach Organisation und nach Engagement. Eine Studentenschaft als politische Generation ging durch den 2. Juni über ihr Geburtsstadium hinaus und fand ihr Format als Studentenbewegung und Generationenaufbruch, ohne vorerst zu wissen, wohin der Weg gehen würde.

Eine organisatorische Arbeitsteilung entstand spontan. Der ASTA als gewähltes Interessenorgan der Studenten nahm die Verbindung zu den entsprechenden Gremien der anderen Universitäten der Stadt auf. Er schuf auch Verbindungen zu den westdeutschen Universitätsstädten und war um die unmittelbare Aufklärungsarbeit bemüht. Räume wurden angemietet, Demonstrationen angemeldet, Pressearbeit geleistet, die Öffentlichkeit informiert und Berichte geliefert. Der SDS, über die Hochschulfraktion in den ASTA und die Hochschulreform eingebunden, war bemüht, die unterschiedlichen Veranstaltungen inhaltlich auszufüllen, die Redner zu stellen und Bündnisse zu anderen Links- oder liberalen Organisationen zu schließen. Er verstand sich selbst als Koalition der unterschiedlichen Fraktionen und Ideen, der zusammengehalten wurde über Persönlichkeiten und Theorien. Streit und Spaltungen suchte er zu vermeiden oder über Diskussionen abzufangen. Zuständig war der SDS vor allem für die jungen Generationen. Der Republikanische Club, der von der Novembergesellschaft eingerichtet wurde und eine riesige Wohnung in der Wielandstraße unweit vom SDS-Zentrum angemietet hatte, war zuständig für ein breiteres Bündnis bis hinein in die FDP und SPD, in Gewerkschaften und Linksgruppen. Er versuchte über Horst Mahler auch die SEW salon- und politikfähig zu machen und herauszuheben aus dem Dasein als „Mauer- oder S-Bahnpartei“ und sollte auch in die DDR ausstrahlen. Der Club war gedacht, den SDS gleichsam unter Aufsicht zu stellen und zu schützen, um seine Illegalisierung zu vermeiden und um zu verhindern, dass seine führenden Vertreter vor Gericht gezerrt wurden. Irgendwann sollte aus diesem Turmbau von Bündnissen eine wählbare Gruppierung entstehen, die den etablierten Senatsparteien eine politisch ernstzunehmende Konkurrenz bot. Dieses Netzwerk aus Organisationen wurde in die Universität und in die Stadtteile durch Rote Zellen und Basisgruppen erweitert, deren wirklicher Gehalt noch nicht sichtbar war, jedoch Indiz dafür war, die Masse der Studenten irgendwie organisatorisch und weltanschaulich zu erfassen. Bis September 1967 war dieses Bauwerk vollendet. Es wies mehrere Sprengsätze auf. Die Politik der SED/SEW und der Traditionalisten korrespondierte kaum mit den Vorstellungen der Kommunarden und von Teilen des SDS. Die neuen Leute würden eigene Ideen in das Bündnis tragen und kaum Disziplin halten. Die neuen Stadtteilgruppen und „Zellen“, die sich bildeten, verwiesen bereits auf andere Zusammenhänge. Es blieb fraglich, wer diesen „Laden“ zusammenhalten konnte. Konnten der SDS oder die SED/SEW, ihre „Nationale Front“ als Club und Kampagne, oder gar die Kommune dieses Wunderwerk vollbringen oder würden die disparaten Kräfte, Polizei und Dienste alles auseinandersprengen?

„Staatsakt“ im Transit — Die Überführung Ohnesorgs nach Hannover

Der Leichnam des toten Studenten sollte in die Geburtsstadt Hannover überführt werden. Die Studentenausschüsse der Westberliner Universitäten organisierten einen riesigen Autokorso. Vor der Grenzkontrollstelle Dreilinden, auf dem Parkplatz, wurde der Leichenwagen, aufgestellt. Der Pastor und Theologie-Professor Helmut Gollwitzer hielt die Totenrede. Dann setzte sich der Leichenzug in Bewegung. An der Spitze fuhr die schwarze Limousine des Bestattungsinstituts. Ihm schlossen sich hunderte Privatwagen an. Schwarze Fahnen, Trauerfahnen, wurden aus den Autofenstern gehalten. Hinter dem Leichenwagen fuhr ein VW-Cabrio. Es gehörte einer Malerin. Hier wurde bereits die rote Fahne gehisst, als ein Symbol von Protest und Revolution.

Ich selbst hatte Bedenken, durch die Grenzanlagen der DDR hindurch zu fahren, denn ich stand auf den Fahndungslisten dieses Staates und wurde als Fluchthelfer gesucht. Würde ich verhaftet werden, so drohten mir mehrere Jahre Zuchthaus. Ich wollte aussteigen. Die Malerin und mir eher unbekannte Genossen von der Technischen Universität überredeten mich, im Auto zu bleiben. So erlebte ich ein einmaliges Schauspiel. Ich hatte mir einreden lassen, dass alle Trauergäste sofort Protest erheben und den Grenzposten besetzen würden, würden die Grenzorgane der DDR mich in Haft nehmen. Ich ärgerte mich bereits nach Minuten über meinen Leichtsinn, konnte jedoch im Niemandsland der Grenze keine andere Entscheidung treffen, als weiter zu fahren.

Der Trauerzug rollte auf die Grenzanlagen zu. Die Grenzpolizei hatte Stellung bezogen und salutierte. Ohne Kontrollen wurden wir durch die Grenze geleitet. Die Soldaten hatten eine Formation gebildet. Sie standen Gewehr bei Fuß und hatten die Schranken geöffnet. Eine Militärkapelle intonierte einen Trauermarsch. Die Westberliner, die vor dem Kontrollposten standen, hupten aufgeregt. Redete ich mir heute die Marschmusik ein oder verabschiedete die DDR tatsächlich den toten Studenten mit militärischen Ehren? Ich nahm erleichtert die Parade meiner Häscher ab. Meine Mitfahrer ballten die Faust. Ich winkte freudig zurück. Auf den Autobahnbrücken begrüßten uns unzählige Blauhemden mit Fahnen und Transparenten. Erst hinter Magdeburg war von diesem FDJ-Aufgebot nichts mehr zu sehen. Der Zentralrat der FDJ hatte die Mitglieder des Bezirk Potsdam mobilisiert, die „Helden“ aus Westberlin zu begrüßen. Im Politbüro der SED hatte Walter Ulbricht sich äußerst positiv über die Studenten in Westberlin geäußert. Nach seiner Überzeugung brach nun endgültig die Republik Adenauers auseinander. Zum ersten Mal seit 1945 schien die DDR und die westlichen Kommunisten eine Chance zu haben, sich in die Belange der Westrepublik einzumischen. Der Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) hatte gleichzeitig der Jugend der DDR bekannt gegeben, dass dieser Trauerzug über die Autobahn seinen Weg nach Westen nehmen würde. Die Motive für diesen Aufruf hatten sicherlich andere subtile Ziele als bei Ulbricht und Honecker. Sicherlich wollten die Kommentatoren des amerikanischen Senders die Ostjugend ansprechen, sich nicht alles bieten zu lassen. So trafen sich auf den Brücken über der Autobahn die offizielle Staatsjugend und die Tänzer aus den halblegalen Tanzschuppen. Bei den Abfahrten und Brücken bei Brandenburg meinte ich die Ehrenträger der Philipp-Müller-Medaille, meinen alten „Karl-Marx-Chor“ und Lehrer Nachtigal zu erspähen. Jetzt ballte sogar ich die Faust.


%d Bloggern gefällt das: